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Titel
Nichtehelichkeit als Normalität. Ledige badische Mütter in Basel im 19. Jahrhundert


Autor(en)
Orth, Karin
Erschienen
Göttingen 2022: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
335 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andrea Althaus, Werkstatt der Erinnerung, Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg

Mit Nichtehelichkeit als Normalität nimmt Karin Orth ein historisches Phänomen in den Blick, das im 19. Jahrhundert so weit verbreitet wie verpönt war: die Geburt von Kindern, deren Eltern nicht verheiratet waren.1 Diese Zweischneidigkeit – in der individuellen Erfahrung „normal“, in der herrschaftlichen und gesellschaftlichen Zuschreibung „illegitim“ – ist der Ausgangspunkt für Orths akribisch recherchierte, empirisch gesättigte, sorgfältig aufbereitete und argumentativ reflektierte Studie. Ähnlich wie früheren Forschungen zu „ledigen Müttern“ und „unehelichen Kindern“ geht es Orth darum, Erklärungen für die im 19. Jahrhundert ansteigenden „Illegitimitätsraten“ zu finden, die zeitgenössisch große Aufregung ausgelöst haben. Sie will „Strukturen und Formen der Nichtehelichkeit unterbäuerlicher und unterbürgerlicher Schichten des 19. Jahrhunderts“ in Südbaden und Basel untersuchen (S. 9f.).

Dafür knüpft sie an zwei Forschungslinien an. Zum einen verfolgt sie einen regionalhistorischen Ansatz, der Nichtehelichkeit im Gegensatz zu früheren monokausalen Erklärungsansätzen als multifaktorielles Geflecht begründet sieht.2 Zum anderen setzt sie bei der erstmals in den 1970er-Jahren von Louise Tilly, Joan W. Scott und Miriam Cohen formulierten These an, die die zunehmende Mobilität und Urbanisierung infolge der Industrialisierung als Ursache begreift. Frauen, die vom Land in die Städte kamen, lebten demnach voreheliche Sexualbeziehungen in der Erwartung, dass sie in eine Ehe münden würden – eine Erwartung, die anders als im vorindustriellen, ländlichen Kontext häufig nicht erfüllt wurde.3

Für die mikrohistorische, empirische Überprüfung dieser These eignet sich die von Orth gewählte Region in besonderer Weise, umfasst das Untersuchungsgebiet sowohl Land als auch Stadt und erstreckt sich über eine Landesgrenze. Nicht nur war die Zuwanderung junger, lediger Frauen aus den ärmlichen Gebieten des südwestlichen Großherzogtums Badens, die im europäischen Vergleich besonders hohe Illegitimitätsraten aufwiesen, in die wirtschaftlich florierende und rasch wachsende Schweizer Großstadt Basel im 19. Jahrhundert hoch. Auch führten die Behörden der Grenzstadt genau Buch darüber, woher die Frauen kamen, die unverheiratet ein Kind auf die Welt brachten. Rund ein Viertel von ihnen stammte – laut Register der Baseler „Einwohnerkontrolle“ – zwischen 1856 und 1880 aus dem benachbarten Großherzogtum Baden. Ausgehend von diesem Register erstellte Orth in akribischer Archivrecherche eine Datenbank mit 835 Kindern, die in den 1860er- und 1870er-Jahren von 780 südbadischen Müttern in Basel „unehelich“ zur Welt gebracht wurden.

Diese umfangreiche Zusammenstellung, die an sich schon eine große Forschungsleistung ist, ermöglicht der Autorin sowohl quantitative Beschreibungen des historischen Phänomens der Nichtehelichkeit als auch qualitative Tiefenbohrungen am Beispiel einzelner Familien, Frauen und Kinder. Darin besteht eine Stärke der Studie. Karin Orth sucht nicht nur nach strukturellen Erklärungen hoher Nichtehelichkeitsraten, sie fragt auch explizit danach, was es für die badischen Mütter bedeutete, in Basel ledig ein Kind zu gebären. Dass die Frage nach Erfahrungen aufgrund fehlender Ego-Dokumente und auf der Basis mehrheitlich behördlicher oder institutioneller Quellen (wie Ehegerichts- und Zivilstandsakten, Niederlassungsunterlagen oder Patientinnendossiers) nicht einfach ist, ist Orth durchaus bewusst. Dass sie sich trotzdem darum bemüht, die obrigkeitlichen Schriftstücke gegen den Strich zu lesen, um sich den Stimmen und der Agency der betroffenen Mütter anzunähern, ist lobenswert und macht die Studie besonders lesenswert.

Das Buch gliedert sich in zwei große Teile. Der erste Teil beleuchtet die geografische und soziale Herkunft der Frauen aus Baden, die später in Basel ledig ein Kind zur Welt brachten. Die Mehrheit von ihnen stammte aus dem „unterbäuerlichen Milieu“ und die Hälfte wuchs im Markgräflerland oder dem Hotzen- und Klosterwald auf (S. 11f.). Diese beiden Bezirke stehen daher im Zentrum der Ausführungen. In zwei Fallstudien untersucht Orth Formen und Traditionen der ehelichen und nicht-ehelichen Familiengründungen in den beiden Kernregionen und kontextualisiert sie im Geflecht wirtschaftlicher Entwicklungen, erbrechtlicher Rahmenbedingungen, obrigkeitlicher Maßnahmen, religiöser Traditionen und sozialer Zustände. Dabei holt Orth teilweise sehr weit – bis in die Frühe Neuzeit – aus. Für Leser:innen, die sich insbesondere für die Mütter im Basel der 1860er- und 1870er-Jahre interessieren, die größtenteils zwischen 1830 und 1859 geboren sind, könnte die Lektüre hier an einigen Stellen etwas langatmig werden.

Für alle, die sich allgemein für den badischen Südwesten interessieren, bieten die beiden Fallstudien viel mehr als nur eine reine Vorgeschichte zur Erklärung des großen Anteils an badischen Frauen unter den ledigen Müttern in Basel. In ihren extensiven Archivrecherchen hat Orth wahre Quellenschätze aufgetan, die den Leser:innen ein anschauliches Bild des (Zusammen-)Lebens, der erotischen Kulturen oder der kirchlichen und weltlichen Sozialdisziplinierung im Markgräflerland, im Hotzen- und Klosterwald vermitteln. Hervorzuheben sind beispielsweise die Protokolle der Ortsbereisungen, auf denen Vertreter der staatlichen Zentralverwaltung im 19. Jahrhundert die Kommunen besuchten, um sich vor Ort ein Bild von den (u.a. „sittlichen“) Verhältnissen zu machen. Nicht nur, aber auch auf der Basis dieser Protokolle gelingt es Orth, trotz großer regionaler Unterschiede eine zentrale Gemeinsamkeit herauszuarbeiten: die Nichtehelichkeit als Normalität. In den wirtschaftlich etwas begünstigteren Lagen im Markgräflerland kamen nichteheliche Familiengründungen zwar nicht flächendeckend vor, wurden jedoch in einzelnen Dörfern und Familien über Generationen selbstverständlich gelebt. In den abgelegenen und ärmlichen Lagen des Hotzen- und Klosterwaldes wurden nichteheliches Zusammenleben und daraus resultierende „uneheliche“ Kinder – abgesehen von Kirche und Staat – sogar weitgehend akzeptiert und familiär tradiert.

Die Frage, ob die Tradition der Nichtehelichkeit mit der Migration junger Frauen, die zuhauf nach Basel gingen, um dort ihren Lebensunterhalt zu verdienen, gewissermaßen exportiert wurde, leitet den zweiten Teil des Buches ein. Darin beschäftigt sich Orth zunächst mit den Lebens- und Arbeitsverhältnissen der Badenerinnen in Basel, die mehrheitlich als Fabrikarbeiterinnen oder Hausangestellte tätig waren, sowie den migrationspolitischen und rechtlichen Strukturen, die den Umgang mit den zugezogenen ledigen Müttern regelten. Deren Situation war in allen Bereichen (Arbeit, Wohnen, Aufenthaltsstatus) von Prekarität gezeichnet. Trotzdem – teilweise auch dadurch bedingt – lebten sie in Basel diverse Formen der Nichtehelichkeit, die Orth im folgenden, besonders reichhaltigen Teil der Studie unter die Lupe nimmt. Hier macht sie – etwa in den Akten des Ehegerichts, vor dem sich jede ledige Mutter zu verantworten hatte – auch die Väter sichtbar. Als Leser:innen erfahren wir, dass die meisten Paare einen ähnlichen sozialen Hintergrund teilten, wo und wie es zum „Beyschlaf“ kam und dass längst nicht alle sexuell aktiven Frauen (und Männer) Heiratsabsichten hegten. Wir lesen von den verschiedenen Strategien der Badenerinnen, mit denen sie ein nichtehelich gezeugtes Kind während der Schwangerschaft oder nach der Geburt zu verheimlichen oder loszuwerden suchten. Orths feine Analysen der Baseler Kriminalgerichtsakten, die Fälle von „Kindsmord“ verhandeln, lassen erahnen, welche Not die werdenden ledigen Mütter teilweise litten, aber auch wie stark sich die Bedeutung von Schwangerschaft und Kindern von unseren heutigen Vorstellungen unterscheidet.

Ein weiterer Schwerpunkt bildet der Themenkomplex Geburt in seiner Bandbreite von den komplikationslosen Niederkünften bis zu solchen mit Todesfolgen. Interessant ist, dass viele Badenerinnen ihre Kinder im Bürgerspital zur Welt brachten, weil Hausgeburten aufgrund ihrer Wohnverhältnisse (etwa im Hausdienst) häufig nicht in Frage kamen. Da sie sich die Spitalkosten nicht leisten konnten, stellten sich viele als Studienobjekte für Medizinstudenten zur Verfügung, was ihnen zwar ein „Freibett“ bescherte, aber sie mit einem potentiell übergriffigen und schambesetzten „Tabubruch“ konfrontierte (S. 233). Nach der Geburt blieben die wenigsten nichtehelichen Kinder bei ihren Müttern, sondern kamen als „Kostkinder“ in andere Familien. Die untersuchten Badenerinnen gingen auch nur in Einzelfällen eine legitimierte Ehe ein, was nicht bedeutet, dass sie nicht andere Formen der eheähnlichen Verbundenheit lebten.

Karin Orth gelingt es, die Frauen nicht nur als Opfer struktureller Bedingungen darzustellen, sondern immer wieder ihren Eigensinn und ihre Handlungsmacht trotz „anderer Umstände“ zu betonen. Auch wenn ihre Analyse phasenweise etwas deskriptiv bleibt, regt sie mit ihrer quellengesättigten dichten Beschreibung die Leser:innen zum Mitdenken an. So eignet sich die insgesamt gelungene Studie als Ausgangspunkt für weitere Forschungen über Sexualitäten, Reproduktionen, Familien- und Beziehungsformen von hochmobilen (weiblichen) Bevölkerungsgruppen im 19. Jahrhundert.

Anmerkungen:
1 Karin Orth verwendet ganz bewusst den Begriff der Nichtehelichkeit, um sich damit von der herrschaftssprachlichen „Unehelichkeit“ respektive „Illegitimität“ abzugrenzen.
2 Vgl. grundlegend Michael Mitterauer, Familienformen und Illegitimität in ländlichen Gebieten Österreichs, in: Archiv für Sozialgeschichte 19 (1979), S. 127–188.
3 Vgl. Louise A. Tilly / Joan W. Scott / Miriam Cohen, Women’s Work and the Family in Nineteenth-Century Europe, in: Comparative Studies in Society and History 17 (1975), S. 36–64, hier S. 55f.

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